Meine lieben Schwestern und Brüder,
Die berühmte französische Psychoanalystin Françoise Dolto, in ihrem Buch „L’Evangile au risque de la psychanalyse“ gibt uns eine interessante Auslegung von diesem Ereignis, das wir im heutigen Evangelium soeben gehört haben. Sie beginnt mit einer Frage über die Identität dieses verstorbenen Kindes. Es wird genannt: „der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe“. Eine Witwe, zu jener Zeit, das war eine ganz arme, verlassene Frau.
Den Mann, der ihren Versorger und ihre Unterstützung war, hat sie verloren. Ihr Lebenszustand war sehr schlecht. Ihre einzige Unterstützung, war ihr Sohn, auf den sie ihre ganze Liebe, ihre ganze mütterliche Zärtlichkeit übertrag. Ihr Kind war alles für sie, so sehr, dass selbst seine Identität nach ihr bekennzeichnet wurde. Sein Name wird nicht bekannt. Im Evangelium, heisst er nur: „der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe“. Sie liebte ihn bis zum Ersticken. Sie erstickte ihn so fest, dass er unter ihrem Ersticken starb. Diesen Tod brauchte es um die Nabelschnur zu schneiden. – Und da kommt Jesus vorbei. Er hält das Trauergefolge auf. Er ruft den Toten an: „Junger Mann“. Jetzt ist er nicht mehr das Baby von Mama. Jesus gibt ihm seine Autonomie, seine Selbständigkeit. Er macht aus ihm eine eigene Person. Und er befehlt ihm: „Steh auf!“. Er macht aus ihm einen stehenden Mann. Er gibt ihm seine menschliche Würde. Diesen Durchgang durch den Tod brauchte es, um ein erwachsener Mensch zu werden. Und dann, erst dann, kann ihn Jesus seiner Mutter zurückgeben. Eine neue Verbindung wird dann zwischen ihr und ihrem Sohn ins Leben gerufen. Sie erhält ihn nicht mehr als ein Stück von ihr, sondern als ein Erwachsener, ein verantwortlicher Gegenüber. – Da kann Jesus der Mutter sagen: „Weine nicht“! Sei nicht traurig, dass dein Sohn ein Mann geworden sei. Lass ihn sein Leben erleben… und du Deines! Wahrlich, auch für sie, war dieses Ereignis ein Durchgang durch ein „Sterben“ um zu einem neuen Leben zu gelangen. Ein Durchgang, in dem sie erfahren musste was der libanesische Dichter Khalil Gibran in seinem Buch „Der Prophet“ den Eltern gesagt hatte: „Eure Kinder sind nicht eure Kinder… Sie gehören euch nicht. Ihr seid der Bogen durch den eure Kinder, wie Pfeile, sollen weit fort, auf den Weg der Unbegrenztheit geschleudert werden“.
Diese Erfahrung „durch den Tod zum Leben“ ist symbolisch die Krisis der Jugendjahre, der Durchgang von der Kindheit zum Alter der Erwachsenen: eine Trennung, die oft schmerzhaft sein kann, nicht nur für den Jüngling, auch für seine Familie und seine Umgebung. Wenn aber einmal der Durchgang vollendet ist, wird man sich wieder finden, in einer neuen Beziehung, nicht mehr von oben nach unten, sondern als respektvolle Partner.
Solches ist auch die Erfahrung eines neuen zum Glauben Bekehrten. Wenn ihm einmal Christus begegnet ist, muss er den alten Mensch ablegen, sein sündiges Wesen soll sterben, mit Christus ins Grab gelegt werden, dass er als neuer Mensch leben kann. Eine Bekehrung ist ein Durchgang durch Tod zum Leben, eine Auferstehung!
Das war exakt die Erfahrung des Paulus. Er war das gehorsamste Kind seiner Mutter Synagoge, der treuste Beobachter des jüdischen Gesetzes. Es bekennt es selbst: „In der
Treue zum jüdischen Gesetz, übertraf ich die meisten Altersgenossen in meinem Volk, und mit dem grössten Eifer, setzte ich mich für die Überlieferung meiner Väter ein“. In solchem Zustand geschah für ihn der Schock, wie ein Trauma, auf der Strasse nach Damaskus. Wie für den Jüngling von Naïm, stossen da zwei Züge frontal ineinander: ein Todeszug, der Verfolger voll mörderischer Tollwut gegen die Jünger des Herrn… und eine Lebenszug, der auferstandene Christus der ihm den Weg versperrt, und ihn anspricht. Nach dieser Begegnung, wird Paul drei Tage lang ohne zu sehen, in der Finsternis bleiben. Wie Jesus im Grab! Und am dritten Tag wird für ihn eine ganz neues Leben beginnen. „Steh auf“ sagt ihm Jesus, wie dem Jüngling von Naïm. Steh auf! Von nun an wird alles, was ihm vorher so wichtig schien, nur noch Nebensache werden. Er nennt es Verlust und Kehricht, im Vergleich mit dem Schatz, den er da entdeckt hat. Er will nichts Anderes mehr kennen als den auferstandenen Herrn Jesus Christus, der seinem ganzen Leben einen neuen Sinn gibt. Und sein neues Leben wird er zu den Heiden orientieren, gerade zu diesen Leuten die er vorher als Unreine, Abscheuliche, Pestkranke und Übelriechende betrachtete. Genau zu diesen wird er gesandt. Da muss er sich wirklich von all seinen Vorurteilen leer machen, um sich mit Leib und Seele ins Abenteuer des Glaubens zu stürzen. Er wird verstehen, dass „der Mensch nicht durch das Gesetz gerecht gemacht wird, sonder nur durch den Glauben an Jesus Christus“. Und er gibt sein eigenes Zeugnis: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat. – Ich vergesse was hinter mir liegt, und strecke mich nach vorne, nach dem Ziel aus, das vor mir liegt“.
Meine lieben Schwestern und Brüder, wir alle haben ganz sicher, in gewissen Momenten unseres Lebens, solche Übergänge auszuführen, uns in Frage zu stellen, unser Leben neu zu orientieren, Trennungen zu erleben, über Sachen, die uns so wichtig schienen, zu verzichten, um auf neue Horizonte zu zielen, eigentlich eine Bekehrung zu unternehmen. Möge in solchen Tagen der Geist des Herrn in uns kommen um aus uns Lebende, aufrecht stehende Menschen zu machen. „Jüngling, steh auf! … Und du, Mutter, weine nicht“. Ja weine nicht über die Vergangenheit. Schau vorwärts! Siehe, dein Sohn lebt. Und du auch, du lebst! Das Leben, das ist ja etwas Wunderbares. Ja, Schau hin, en neues Leben beginnt für dich! Alleluia!
Homelie zum 10. Sonntag im Jahreskreis C
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